Begegnung mit Kirchner

Neu kuratiert zeigt das Kirchner Museum Davos Meisterwerke der Sammlung. Gelegenheit, während eines Tagesausflugs ins Prättigau, Natur-Landschaften mit Kunst-Landschaften zu vergleichen.

Zu den wichtigen Themen im Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner (1880 bis 1938) hängen in der aktuellen, vier Säle umfassenden Ausstellung des Kirchner Museums Davos Ölbilder, Skulpturen, Drucke und Textilarbeiten sowie Fotos und Briefe. Inhaltlich Atelier-, Akt- und Zirkusszenen, Porträts, Gruppen-, Strassen- und Landschaftsbilder. Werke aus der «Brücke»-Zeit, den Krisenjahren um 1916 sowie frühe und späte Davoser Bilder. Die Ausstellung ist nicht zu gross und nicht zu klein, um sich einsehen und einfühlen zu können in das Oeuvre eines wichtigen Künstlers des 20. Jahrhunderts.

Kirchners Leben

E. L. Kirchner wurde 1880 in Aschaffenburg geboren. Nach dem Architekturstudium in Dresden gründete er am 5. Juni 1905 mit seinen Freunden Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff die Künstlergemeinschaft «Brücke». 1911 zog er nach Berlin. In den folgenden Jahren erreichte er mit seinen expressiven Werken einen Höhepunkt seines Schaffens.1913 zerbrach die Freundschaft der «Brücke»-Künstler. Die Auseinandersetzung mit den Problemen der Grossstadt und die Erlebnisse im Militärdienst setzten Kirchner körperlich und seelisch derart zu, dass er nach verschiedenen Klinikaufenthalten schliesslich 1917 in Davos Heilung suchte. Auf der Stafelalp, dann In den Lärchen und schliesslich auf dem Wildboden schuf er ein umfangreiches Spätwerk. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden seine Bilder aus den Museen verbannt und in der Ausstellungsreihe «Entartete Kunst» verunglimpft. Die Diffamierung seiner Person und seines Werkes, die Nazifizierung Deutschlands und persönliche Probleme stürzten ihn in eine tiefe Krise. 1938 schien ihm der Freitod der einzige Ausweg zu sein. Sein Grab, wie auch dasjenige seiner Lebensgefährtin Erna, befindet sich auf dem Davoser Waldfriedhof.

Die nachfolgenden Werke von Ernst Ludwig Kirchner hängen alle in der Ausstellung des Kirchner Museum Davos und sind alles Ölbilder.

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Alpenleben, 1918

Die «Brücke»

Neben E. L. Kirchner gehörten während kurzer oder langer Zeit zur Künstlergruppe «Brücke» Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Fritz Bleyl, Fritz Schumacher, Emil Nolde, Otto Müller, Cuno Amiet und Max Pechstein. Einer ihrer Grundsätze lautete: «Die sinnliche Lust am Gesehenen ist der Ursprung aller bildenden Kunst von Anfang an.»  Doch was meinten sie mit dem Symbol der Brücke? Da es von den Künstlern selbst keine offizielle Definition gibt, kann uns vielleicht die bildliche Darstellung des Namens auf einem kleinen Ex Libris weiter helfen. Vor einer steilen Brücke stehen auf beiden Ufern Menschen, die einander zurufen und zuwinken. Erst später formulierten sie ihre Intention etwas deutlicher: «Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohl angesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.»

Zwischen Grossstadtbohème und Naturidylle

Das Leben des Menschen und Künstlers Kirchner war eingespannt zwischen der Grossstadtbohème im mondänen und hektischen Berlin der 20er-Jahre, geschwängert mit Alkohol und Morphium, und der «heilen» Welt der imposanten und idyllischen Berglandschaften und ursprünglichen Menschen in Davos und Umgebung. Doch wenn er in die Natur floh, nahm er die Stadt mit sich, indem er in die Stadt eintauchte, sehnte er sich nach der Unschuld der Natur. Er lebte in einem existentiellen Sowohl als auch.

Hier wie dort zogen Frauen Kirchner magisch an. Sie inspirierten und faszinierten ihn sein ganzes Leben lang. Ruth, Isabella, Dodo, Line, Paula, Fränzi, Emmy, Marcella, Milly, Nelly, Gerda, Nina, Fritzi, Catherina, Elisabeth und schliesslich Erna. Sie alle waren für ihn entweder Muse, Geliebte, Modell, Inspiration oder Managerin. Seine Beziehungen zu ihnen wurden für ihn immer wieder zum Stein des Anstosses. Obwohl er Geborgenheit und Ruhe suchte, provozierte er gleichzeitig mit seinem freien Lebensstil die strengen Hüter von Sitte und Ordnung in seiner Umgebung.

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Davos mit Kirche, 1925

Von der Impression zur Expression

Mit seinem Frühwerk ist ein Vergleich Kirchners Malerei mit andern Vertretern des Expressionismus aufschlussreich und erhellend: so mit Kokoschka, Beckmann, van Gogh, Nolde, Mark oder Macke. In seinem Spätwerk jedoch wurde sein Malen zunehmend flächiger, womit er sich von den andern unterscheidet. Ende der zwanziger Jahre ist sein Stil gezähmt und ruhig, weiter dem Gegenstand verpflichtet, jedoch diesen abstrahierend.

Die Hektik und Dynamik der Roaring Twenties in Berlin und die Ruhe und Schönheit der Landschaften und des ruralen Lebens in Davos beeindruckte und beeinflusste ihn (Impression). Doch nicht so, dass er das, was die Welt vor ihm offenbarte, abmalte. Er verwandelte das Gesehene stets in Eigenes und drückt sich immer als Kirchner-Werke aus (Expression). So entstanden in Davos Landschaften, Gruppenbilder, Stilleben und Porträts in den typischen Kirchner-Farben Violett, Grün, Rosa, Blau, Gelb und Orange. Doch nicht so wie bei den Pointillisten, bei denen sich die Farben erst durch das Halbverschliessen der Augen mischen. Kirchner verwendete in seinem meist figürlichen Spätwerk Flächen wenige gebrochene Farben, die mit andern ähnlich farbigen Flächen kommunizieren, indem sie sich gegenseitig durchdringen. Es entstehen, durch geschwungene Linien begrenzt oder verbunden, Kompositionen menschlicher Figuren, oft von zwei Seiten gleichzeitig gesehen. Auch Picasso, den Kirchner in einer Zürcher Ausstellung kennen lernte, arbeitete damals ähnlich.

Beim späten Kirchner vermischen sich nicht mehr farbige Punkte und Striche zu einem geschlossenen, eindeutigen Bild, sondern manifestieren zwei verschiedene Ansichten derselben Figur offene, zweideutige Gestalten. Ob diese Zweidimensionalität, dieses formale Sowohl als auch vielleicht etwas mit seinem biografischen und psychischen Sowohl als auch zu tun hat? Die Bilder lassen es vermuten.

Kirchners Werk ist ein Bekenntnis zum Leben; Kirchners Leben, das mit dem Selbstmord beendet, das Dokument eines Scheiterns am Leben. Seiner eigenen Kunsttheorie folgend, die er in  der Hoffnung auf eine Professur entwickelt hat (sie wurde ihm verweigert), verwandelte er immer Natur-Formen in Kunst-Formen.

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Die drei alten Frauen, 1925/26

«Der doppelte Kirchner»

Eine TV-Dokumentation von Barbara Dickenberger (arte, 24. April 2010) lässt einen – am Beispiel seiner beidseitig bemalten Leinwände – eine Erklärung dieses Sowohl als auch durchaus glaubwürdig erscheinen. Denn 130 seiner 1000 Leinwände sind vorder- und rückseitig bemalt. Die praktische Erklärung, er hätte in Davos nicht genügend Leinwand gehabt, befriedigt angesichts der hohen Zahl der «doppelten Kirchner» nicht. Zwei Doppelbilder können die Vermutung für eine grundsätzliche Erklärung plausibel erscheinen lassen: Bild 1: Auf der einen Seite ein beschaulicher Flötenspieler aus der Davoser-Zeit, auf der andern eine wilde Nacktbadeszene aus der Berliner-Zeit. Bild 2: Auf der einen Seite ein lasziver Akt aus der Dresdener-Zeit, auf der andern Seite ursprüngliche Holzfäller aus der Davoser-Zeit. Könnten diese «doppelten Kirchner» nicht, so frage ich im Nachgang der Fernsehsendung und im Blick auf das gesamte Oeuvre, die zwei Seiten der gespaltenen Künstlerpersönlichkeit Ernst Ludwig Kirchners ausdrücken?

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Grosses Liebespaar, 1930

Ernst Ludwig Kirchner über seine Arbeit

«Ich muss zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen. Nur arbeiten, arbeiten und an sonst nichts denken.»

«Es ist deshalb nicht richtig, meine Bilder mit dem Maßstab der naturgetreuen Richtigkeit zu beurteilen, denn sie sind keine Abbildungen bestimmter Dinge oder Wesen, sondern selbständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur soweit enthalten, als sie als Schlüssel zum Verständnis notwendig sind.»

«Meine Bilder sind Gleichnisse, nicht Abbildungen. Formen und Farben sind nicht an sich schön, sondern die, welche durch seelisches Wollen hervorgebracht sind.»

«Es ist etwas Geheimes, was hinter den Menschen und Dingen und hinter den Farben und Rahmen liegt, und das verbindet alles wieder mit dem Leben und der sinnfälligen Erscheinung, das ist das Schöne, das ich suche.»

Weiterführungen

Am 6. Mai diesen Jahres wäre Kirchner 130 Jahre alt geworden. Das Davoser  Museum begeht den Geburtstag mit einer Abendveranstaltung mit Gesprächen zu «Kirchner. Ein Leben», «Textiles und die Frauen», «Frühwerk/Spätwerk». Eintritt frei.

Die aktuelle Ausstellung dauert noch bis 26. Juni 2010. Das Kirchner Museum zeigt über die Jahre, abgesehen von speziellen Ausstellungen, immer wieder andere Werke aus dem Archiv. Ein Besuch lohnt sich deshalb immer wieder.

Während der Ausstellung «Ernst Ludwig Kirchner: Meisterwerke aus der Sammlung» bietet das Kirchner Museum Davos regelmässig öffentliche und auf Anfrage auch private  Führungen an.

Weitere Auskünfte sind unter www.kirchnermuseum.ch einzusehen und bietet der Informationsfilm von Phil Dänzler, der im Untergeschoss des Museums auf Nachfrage gezeigt wird.